Unsere Schattenseiten in Licht verwandeln
- Schattenseiten gehören zum Leben
- Mit Schattenseiten anders umgehen lernen
Es gibt, in sich auch stimmige Konzepte und Interpretationen über das Böse, das Triebhafte, das Unberechenbare in uns Menschen. Die Psychologie erklärt oft, vereinfacht ausgedrückt, diesen Persönlichkeitsbereich durch das Verhalten und die Gene der Eltern, vor allem der Mutter. Ob sie das Kind schon im Mutterleib abgelehnt hat, ob und wann es vernachlässigt oder physisch und psychisch missbraucht wurde. Das Verhalten der Eltern sei demnach entscheidend, ob das Kind später narzisstische, histrionische, phobische, psychotische, borderlinische… Symptome zeigt.
Keine Frage, unsere Sozialisation beeinflusst in hohem Maße unseren Charakter. Die Frage, die sich hier aber stellt ist, ob diese Konzepte ausreichen, um die Gewalt und die kaum fassbaren Grausamkeiten von Menschen, in Beziehungen oder Kriegen ausreichend zu erklären.
Für Carl Gustav Jung waren die Schattenseiten des Menschen ein halbbewusster oder ganz und gar unbewusster Teilbereich seiner Persönlichkeit. Diese Seite von uns ist die, die wir nicht sehen wollen, weil sie uns ängstigt und uns immer wieder unsere psychischen und geistigen Grenzen aufzeigt. Sie verkörpert unsere evolutionäre, archaische Vergangenheit. Archaisch aus dem Griechischen stammend, heißt so viel wie ursprünglich, frühzeitlich oder altertümlich. Das kann sich auf den Ursprung des Homo sapiens (etwa vor 300 000 Jahren), das kann sich aber auch auf den Ursprung von Leben überhaupt beziehen. Wie auch immer. Die gesamte Entwicklung des Lebens steckt in unseren Genen. Kaum fassbar oder nachvollziehbar.
Wir haben eine Entwicklung von der Bakterie bis zum homo sapiens hinter uns. Die Entwicklung des Lebens begann im Meer. Noch heute wachsen beim menschlichen Embryo etwa nach fünf Wochen Kiemen, die sich dann wieder zurückbilden und in Arme und Beine umwandeln.
Ähnliches ereignete sich, als sich die ersten Fische an Land trauten. Allmählich entwickelten sich ihre Kiemen und Flossen zurück. Stattdessen wuchsen Füße und später Beine.
Daraus lässt sich ableiten, dass die gesamte evolutionäre Entwicklung in unseren Genen in irgendeiner Form gespeichert ist. Um eine verständnisvolle Erklärung für unsere Schattenseiten zu finden, könnte man daraus schließen, dass die unbändigen Triebe, Bedürfnisse und Ängste ein Überbleibsel dieser langen Entwicklungszeit sind. Man kann daher annehmen, dass diese Urtriebe und Energien wahrscheinlich mehr Auswirkungen auf unser Verhalten im Leben haben, als wir es gerne hätten. Je weniger wir sie aber annehmen wollen, umso mehr Macht geben wir ihnen, sich in einer anderen Art und Weise zu zeigen.
Wir sind ein Teil der Natur. Von daher nicht nur bewusste, geistige Wesen, sondern auch mit Trieben und Instinkten ausgestattet. Nicht immer berechenbare sexuelle Triebe, Ängste, Gier und Neid, wohnen in allen Menschen. Die hieraus entstehenden Charakterschwächen, Inkonsequenzen, widersprüchlichen Handlungen und die daraus sich bildenden mächtigen Gefühle wie Wut und Hass, die uns zur physischen und psychischen Gewalt nach außen oder gegen uns selbst nach innen gerichtet führen können, beeinflussen und bestimmen häufig unbewusst unseren Alltag. Nicht selten greifen wir auch aus diesen Gründen zu allen möglichen Kompensationshandlungen und gefühlsmanipulierenden Mitteln wie Drogen und Medikamenten, um vor diesen Kräften sooft wie möglich zu flüchten.
Fremd ist uns das Außen. Das, was wir nicht sehen und nicht kennen. Daher macht uns das Fremde Angst. Welche Ängste mussten unsere archaischen Vorfahren vor dem Außen haben? Vor Tieren, die Menschen als ihre Beute sahen, vor einer fremden, bedrohlichen Umwelt? Man kann annehmen, dass eher die Menschen überlebten, die misstrauisch waren und sich nur sehr vorsichtig der Umwelt annäherten.
Vor Fremdem und Neuem fürchten wir uns auch heute noch. Besonders deutlich zeigen dies Menschen mit ihren rassistischen Vorurteilen. Aber kaum jemand kann sich diesen Ängsten ganz entziehen.
Gleichgültig, wie uns Charaktereigenschaften stören und an einem sinnvollen Leben hindern. Wir haben im Laufe der Zeit gelernt mit ihnen umzugehen, indem wir sie häufig kompensieren. Vor dem Neuen, dem „Anderen“ haben wir erstmals Angst. Daher bringen Menschen auch immer Widerstände in einen therapeutischen Wachstumsprozess mit, obwohl sie sich gerne sinnvollere Verhaltensweisen aneignen würden. Um Neuem zu begegnen brauchen wir deshalb Mut. Mut und Willenskraft uns unseren Ängsten und störenden Verhaltensmustern zu stellen. Uns unserem Unbewussten zu stellen. Schritt für Schritt ihm entgegengehen.
In uns ist Gutes und Böses vereint. Es liegt an uns, welcher Seite wir uns zuwenden. Je weniger wir diese Kräfte annehmen können und deshalb unterdrücken und verdrängen müssen, umso mehr bedrängen und bedrohen sie uns. Immer wieder müssen wir zudem die Erfahrung machen, dass uns die Kontrolle dieser unerwünschten Verhaltensweisen überfordert. Gesellschaftliche Moralvorstellungen und die Gebote der Religionen kennen in der Regel keinen anderen Weg als sie zu bekämpfen und Betroffene zu bestrafen. Diese Energien und die damit verbundenen negativen Gedankenschlaufen sind häufig tabuisiert. In unserer Sozialisation und in den Erziehungsinstituten haben wir bisher kaum eine angemessene kommunikative Form gefunden, uns offen über diesen Teilbereich unserer inneren Welt mit anderen auszutauschen. Daher fühlen wir uns im Umgang mit ihnen zumeist alleine gelassen. Auf diese Weise entstehen Unsicherheiten und Ängste, die uns beständig im Alltag begleiten. Da die Erzieher Ähnliches erfahren haben, und gleichermaßen verunsichert sind, machen ihnen unsere Schattenseiten selbst große Ängste. Sie sehen sich durch uns gespiegelt, fühlen sich bedroht und wehren sich, indem sie ihre Schützlinge bestrafen. Diese Ängste führen dann häufig zu strengen Maßnahmen und einer mehr oder minder rigiden Ordnung. Ängste und Unsicherheiten können aber auch zu einem gegenteiligen Verhalten führen, indem man Kindern so gut wie keine Grenzen setzt.
Weder durch Strafen noch durch Ignoranz können unsere inneren Triebe, chaotischen Gedanken und Ängste aber beruhigt oder gar beseitigt werden. Im Gegenteil. Weil wir für etwas bestraft werden, was zu unserer evolutionären Entwicklung und Gesamtpersönlichkeit gehört und deshalb auch durch Unterdrückung nicht kontrolliert werden kann, können wir in Sanktionen und Strafen keinen Sinn erkennen. Auch Kinder, die zu viel Raum bekommen, können diesen Raum nicht in sinnvolle Verhaltensweisen umsetzen. Es entsteht stattdessen schon in frühen Jahren eine tiefe Unsicherheit in uns. Scham und Schuldgefühle sind häufig die Folge, die unsere Hilflosigkeit, Ängste, mitunter Verzweiflung noch verstärken. Die unbeliebten Kräfte, die man nicht beherrschen kann, müssen daher, so glauben wir, unterdrückt und verdrängt werden. Alles, was wir aber unterdrücken und verdrängen führt und beherrscht uns im Leben.
Dies ist der Grund, warum wir dann die unliebsamen Ausdrucksformen nach außen projizieren und auf andere, mehr oder weniger fremde Menschen übertragen müssen. Dies kann aber auch die Partnerin sein. Wie viele Beziehungen sind schon an unkontrolliertem Hass zerbrochen?
Da wir diese Energien in uns nicht so kontrollieren können, wie dies uns die traditionelle Moral vorschreibt, projizieren und übertragen wir sie auf andere Menschen. Am ehesten auf Menschen, die anders sind, uns fremd scheinen, vielleicht eine andere Sexualität leben, eine andere Nationalität, eine andere Religion, oder eine andere Hautfarbe haben. Die Menschen verkörpern für uns jetzt das, was wir in uns nicht haben wollen. Das Unangenehme, Böse, Unreine, während wir uns nun frei von den unangenehmen Trieben wähnen und unsere eigene Einstellung, Sexualität oder Religion zur Wahrheit, zum Guten, Richtigen und Reinen aufwerten.
Wir brauchen uns dann nicht mehr mit uns selbst und diesen uns bedrohlich scheinenden Kräften auseinander zu setzen. Stattdessen haben wir außerhalb von uns „das Böse“ gefunden, auf das wir dann unsere Ängste übertragen können und müssen. Solange wir dies tun, müssen wir Menschen zu Fremden, zu Feinden machen, weil wir in schwierigen Situationen immer jemanden oder etwas brauchen, auf den oder die wir diese mächtigen Triebkräfte übertragen können. Der äußere „Feind“ spiegelt somit unsere inneren Schattenseiten wieder, die wir deshalb bei ihnen ablehnen und bekämpfen müssen. Die damit verbundene Wut, der manchmal kaum zu bändigende Zorn führen dementsprechend wiederholt zu gewalttätigen Handlungen. Nicht nur physischer sondern auch psychischer Art.
Schon in alten Kulturen wurden diese Triebkräfte als böse Geister und Dämonen bezeichnet, von denen nicht einmal die Götter befreit waren.
Gewalt und Kriege sind für Jung daher die Folgen einer tiefen Abgespaltenheit des modernen Menschen gegenüber seiner archaischen Vergangenheit.
Eine andere Möglichkeit mit diesen inneren Dämonen umzugehen ist, diese zerstörerischen Kräfte in Form von Schuldgefühlen, von Scham, von Nichtgenügen gegen sich selbst zu richten. Ein Verhalten das ständig neues Leid schafft.
Solange wir diese Zusammenhänge nicht wirklich verstehen, bleibt uns häufig nichts anderes übrig als unsere Schattenseiten nach außen auf andere Menschen oder gegen uns selbst zu richten. Ein zumeist unbewusstes Verhalten, das aber immer Leid hervorruft.
Im Dritten Reich haben wir gesehen, was Unterdrückung Verdrängung und Unwissenheit anrichten können. Im Nationalsozialismus machten die Deutschen sich zu Ariern. Das alte Germanien wurde zum Guten, zum Reinen erklärt. In einem heldenhaften Kampf hat dort, dem Mythos nach, Siegfried den Drachen besiegt. Mit dem Drachen hat er symbolisch das gesamte Böse und Unreine, das es draußen in der Welt gibt beseitigt. Gegründet darauf, haben Arier nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Böse in Form von Juden, Sintis, Romas, Schwulen… und allen Andersdenkenden zu besiegen und zu vernichten.
Wir wissen, dass auch bei den Kämpfen im ehemaligen Jugoslawien alle Kriegsseiten unvorstellbare Gewalt gegen Andersdenkende ausgeübt haben. Besonders grausam, war das Vergewaltigen der „feindlichen“ Frauen. In allen Kriegen finden und fanden ähnliche Gewalttaten statt. Zum Krieg gehören grundsätzlich, gewalttätige, zerstörerische und vernichten wollende Exzesse. Der menschliche Geist wird aber nicht nur in Kriegen immer wieder von einem unkontrollierbaren Hass überrollt.
Gleichgültig, wie grausam man selbst und wie irrational die Ideologie ist, man interpretiert das eigene, zerstörerische Verhalten trotzdem als das Gute und Richtige zumindest aber als das unbedingt Notwendige. Sonst könnten Kriegsverbrecher nicht vom Großteil der Bevölkerung als Helden verehrt werden. Auch irrationale, zutiefst gewalttätige Exzesse können bei Menschen mit großen, unbewussten Schattenseiten ein starkes nationales Selbstbewusstsein schaffen.
Wenn man sich Nationalhymnen anhört, findet man bei den meisten heroische Texte. Heroisch zum Kampf und zur Verteidigung. Nicht im ethischen oder spirituellen Sinne.
Vor nationalen, sportlichen Wettkämpfen singen die Menschen dann inständig ihre Nationalhymne, legen sich die Hände an das Herz, um magische oder göttliche Kräfte anzurufen, die helfen sollen, den Gegner zu besiegen.
Unsere evolutionäre Vergangenheit gehört zu uns. Gewalt, Hass, Neid und Gier können jederzeit in Form von Gedanken und Gefühlen im Geist auftreten. Durch Innehalten und Achtsamkeit können wir aber lernen, sie rechtzeitig wahrzunehmen und mit ihnen anders umgehen. Solange wir jedoch diese Energien, unsere Schattenseiten bekämpfen, unter-drücken oder verdrängen, bleiben sie uns fremd und unbewusst und wandeln sich in Ängste und Hass um. Unser Inneres bleibt Ausland und vergrößert dabei noch kontinuierlich unsere Schattenseiten.
Wir haben uns bisher nicht getraut diese Energien genau anzuschauen. Bisher gaben wir ihnen nicht die Möglichkeit sie kennen zu lernen.
Wer sind sie?
Was wollen sie von uns?
Was wollen sie mir zeigen?
Wie sollen wir mit ihnen umgehen?
Was geschieht, wenn ich mich ihren Kräften stelle?
Was geschieht, wenn wir auf sie zugehen, sie annehmen, sie in uns bergen?
Wo es Schatten gibt, muss es auch Licht geben. Das Licht verkörpert das Gute in uns, unsere positiven Verhaltensweisen, die wir gerne immer wieder in den Vordergrund schieben. Je intensiver aber das Licht strahlt, umso mehr löst sich der Schatten im Licht auf. Ich muss daraus folgend meine Schattenseiten in Licht, in das Gute, in das Heilende verwandeln.
Wie könnte das konkret aussehen? Angenommen ich stehe außerhalb eines Teiches mit klarem Wasser, bei dem ich seinen Grund erkennen kann. Ich steige nun in den Teich und wühle den Schlamm auf, sodass sich mir ein durch und durch trübes Wasser zeigt. Solange ich jetzt versuche das trübe Wasser nach unten zu drücken wird der Teich trüb bleiben, beziehungsweise immer trüber werden. Wenn ich wieder den Grund des Teiches erkennen will, darf ich mich nicht bewegen und muss abwarten bis der Schlamm wieder nach unten gesunken ist.
Genauso wenig, wie es nicht möglich ist in einen Teich zu steigen, ohne dass der Boden aufgewühlt wird, genauso wenig können wir im Leben sein und diesen negativen Gefühlen und Gedanken ausweichen.
Wie im Teich sollten wir im Leben, in bedrohlichen, angstmachenden Situationen innehalten, stehen bleiben, – „Stopp“ sagen und die inneren, mächtigen und negativen Kräfte nicht mehr nach außen agieren. Innehalten und abwarten bis der Geist wieder klarer geworden ist.
Wir können diesen heftigen, negativen Gedanken und Gefühlen nicht ausweichen. Wir können ihnen nicht entgehen. Sie fangen uns immer wieder ein. Sie sind da. Kommen ganz überraschend, ob ich das möchte oder nicht. Wir können diesem „Wahnsinn“, der sich in unserem Geist abspielt, den ewigen Gedanken-schleifen und Geschichten nicht entgehen. Ich gehe davon aus, dass nahezu alle Menschen, Gedanken der Wut, des Hasses, der Gier, der Geilheit, des Neides… erfahren. Wenn Menschen zu mir ungerecht sind, ich mich verraten fühle, die Freundin mich verlässt, ich sogar geschlagen werde… Schmerz, Wut, Leid und die damit verbundenen Gefühle und der innere Ruf nach Vergeltung und Rache entstehen und weil das Ego sich verletzt fühlt, erfordert es hohe Achtsamkeit, um mit diesem Schmerz sinnvoll umzugehen.
Wer kennt diese Gedanken und Gefühle nicht? Wenn ich wachsen will, bewusster, klarer werden will, einem spirituellen Weg folge, Kontemplation übe, begegne ich immer wieder diesem inneren „Wahnsinn“. Man könnte sagen, gerade dann kann ich diesen Kräften nicht ausweichen und bin gezwungen eine individuelle, prozesshafte Umgangsform mit ihnen zu finden. Eine Umgangsform bei der ich weder mich noch andere Menschen schädige.
Nicht nur Viktor Frankl sagt, dass wir zwar Bedingungen unterworfen sind, aber wie wir uns zu den Bedingungen stellen, darin sind wir frei. Er sagt, dass wir diese Freiheit selbst in einem Konzentrationslager haben. Er kann das behaupten, denn er hat selbst diese Erfahrung gemacht. Auch dort habe ich die Freiheit einem Kranken sein Brot wegzunehmen oder meines mit ihm zu teilen!
Was geschieht also, wenn ich die Verantwortung für meine Verhaltensweisen übernehme, mich nicht mehr als Opfer ansehe, sondern mich den Bedingungen stelle und die angstmachenden Triebe annehme, sie nicht nach außen agiere, sondern innehalte und abwarte?
Es geschieht etwas Überraschendes, etwas Paradoxes. Sobald ich sie annehme, und nicht ausagiere, verwandeln sie sich. Wenn ich vor der Angst nicht mehr weglaufe, sondern ihr entgegengehe, wird sie kleiner. Sie schrumpft unter meinem klaren Blick zusammen. Aus schier unbändigendem Hass wird Wut, die mir Kraft zur Veränderung und Neugestaltung gibt, aus neidvollen Gedanken kann ich den Wert für mich erkennen, aus Gier wird die Fähigkeit genießen zu lernen… Es entstehen heilende Werte, die in unserer dualen Welt für uns von Bedeutung sind. Mich sinnvoller handeln lassen. Ist die Wut in einer Welt, die durchnetzt von Ungerechtigkeiten ist, nicht sogar manchmal notwendig? Ist es nicht wichtig Wut über Politiker zu empfinden, die mehr an sich, als an die Menschen denken, die sie gewählt haben? Dass sie zulassen, wie die Ressourcen der Erde von wenigen Großkonzernen ausgebeutet werden, wie sie mit Flüchtlingen, mit der kommenden Klimakatastrophe, mit … umgehen? Wenn ich da nicht wütend werde, muss mich unser Gesellschaftssystem ähnlich abgestumpft, verdummt und egoistisch gemacht haben.
Im Hass zu handeln, hilft aber weder mir noch der Natur, noch anderen Menschen. Hass zerstört immer, während kontrollierte Wut mich klarer denken lässt und zu einem sinnvollen Handeln führen kann.
Wir dürfen diese Triebe nicht mehr in dieser ursprünglichen, zerstörerischen Form nach außen tragen, nicht mehr unkontrolliert ausagieren. Daher müssen wir lernen innezuhalten und Stopp sagen, allmählich still werden. Abwarten bis das Wasser wieder klarer geworden ist. Von innen her tauchen dann neue Ideen auf, die wirklich sinnvoll sind und uns zu einem Handeln führen, indem auch das Gegenüber in seiner Unbewusstheit erkannt und respektiert wird. Es ist sehr fordernd gegensätzliche Meinungen anzuhören und zu akzeptieren. Akzeptieren heißt nicht, dass ich die Meinung richtig oder gut finden muss. Ich nehme sie an, weil ich weiß, dass ich nicht alles weiß, und niemals alles wissen werde.
Während des Innehaltens werden mir meine Schattenseiten bewusster und verwandeln sich allmählich in Licht. Sobald wir uns unseren abgelehnten Teilen stellen, sie bergen, zeigen sie ein anderes Gesicht. Etwa so, wie wenn wir einen Menschen mit einer angstmachenden Maske sehen und uns erschrecken. Nun nimmt er sie ab und lächelt uns zu. Es hat etwas Magisches, etwas Glückshaftes, wenn aus den Höllen der Leidenschaften positive Kräfte wachsen. Dies geschieht, weil das Glückshormon Dopamin gebildet wird.
Sobald wir uns unserem Schmerz stellen, ihn genau anschauen, verwandelt er sich. Aus unseren Tiefen tauchen Handlungsmöglichkeiten auf, die wir zuvor nicht kannten und führen uns zu einer sinnvollen Handlung. Das Fremde, uns Angst-machende vertraut machen, es letztlich vielleicht lieben lernen. Herausforderungen, schwierigen Situationen nicht ausweichen, sondern sie annehmen, sich ihnen stellen, ohne automatisiert wütend sich zum Opfer zu machen, sich zu rechtfertigen, anzuklagen oder rächen zu wollen. Jenseits üblicher moralischer Vorstellungen finden wir Wege, die unseren eigenen Bedürfnissen und denen der anderen gerechter werden.
Wir müssen durch die Dunkelheit der „bösen“ Triebkräfte mitten hindurchgehen. Schmerz und Leid, der Hölle der Leidenschaften nicht ausweichen. Jedes Innehalten in Belastungssituationen stärkt unsere inneren positiven Kräfte, während die negativen in derselben Quantität abnehmen. Die Schattenseiten nehmen ab, werden zu Licht. Auf diese Weise wachsen unsere ethischen Werte, das Heilsame in uns.
Je häufiger es uns gelingt, die negativen Kräfte nicht im Außen abzureagieren, sondern sie zu transformieren, umso mehr wachsen auch unsere Selbstmächtigkeit und unser Selbstwertgefühl.
Wir können nun in einen spirituellen Prozess eintreten, der eine andere Qualität von Bewusstheit mit sich bringt. Indem ich meine Schattenseiten wahrnehme und annehme, beginne ich meine Gesamtpersönlichkeit anzunehmen, mich zu mögen, ja mich zu lieben, so wie ich bin, als Voraussetzung andere Menschen lieben zu können. Es kann eine Sehnsucht auf-tauchen, mein Herz zu öffnen und mich dem Fluss des Lebens hinzugeben. Nebenbei entdecke ich als Dauergäste in meinem Herzen: Achtsamkeit, Freude, Dankbarkeit, Mitgefühl, Leichtigkeit, Humor, Vertrauen zum Sein, Liebe…
Ich erkenne zunehmend einen Weg, der zu mehr Bewusstheit, einem sinnvollen Leben und wachsender innerer Freiheit führt.